Empowerment statt Ohnmacht: Sein Leben in die Hand nehmen

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Das Verlassen der Opferrolle ist ein entscheidender Faktor für Resilienz. Denn dieser beinhaltet, sein Leben aktiv in die Hand zu nehmen, seine eigenen Entscheidungen zu treffen, seine Ziele konsequent zu verfolgen und letztendlich das Leben zu führen, das man leben will.
Vorweg: Wenn wir im Zusammenhang mit Resilienz von einem Opfer sprechen, reden wir nicht von einem Menschen, dem Gewalt angetan wurde, der etwas Schweres, wie Krieg oder eine Katastrophe, erlebt hat; sondern wir sprechen von einem Menschen, der in einer bestimmten Situation verharrt, die ihm nicht gut tut; er aber das Gefühl hat, nichts machen zu können bzw. dem Schicksal ausgeliefert zu sein.

 

So, wie meine Freundin Anna.
Anna lebt in Hamburg. Sie ist Texterin bei einer großen PR-Agentur. Sie ist mit ihrem Job nicht zufrieden, und um dieses Thema dreht sich fast jedes Telefonat. So auch eines der letzten. Nach meiner Frage: „Und, wie sieht es beruflich bei Dir aus“, sprudelte es aus ihr hervor:

  • Schrecklich. Es wird immer schlimmer. Mein Chef ist absolut gegen mich.
  • Nun, das ist nichts Neues. Das sagst Du schon seit Jahren.
  • Ja, aber stell Dir vor. Ich habe einen Großauftrag an Land gezogen; Michael dagegen nur einen kleinen. Aber er wurde viel mehr gelobt als ich. Und die Kollegen haben nur ihn beglückwünscht, mich nicht. Naja, das war ja klar, die können mich ja nicht leiden.
  • Nun mach es mal halblang, das glaube ich nicht. Aber jetzt mal etwas anderes, Du jammerst seit genau 5 Jahren herum. Du hattest doch vor, Dich selbstständig zu machen? Was ist denn daraus geworden?
  • Ja, ich würde ja gern, aber das ist ja nun doch nicht so leicht. Ich bin immerhin schon 56.
  • Ach, das Alter spielt keine Rolle, und Du hattest doch schon ein fertiges Konzept.
  • Ja, ich hätte es doch auch gemacht, aber dann kam Corona.
  • Hm, ist Corona nicht nur eine Ausrede? Du bist Texterin. Du kannst alles wunderbar von Zuhause aus machen. Du brauchst nur einen Rechner und ein Telefon. Und ein Netzwerk, aber das hast Du Dir doch inzwischen aufgebaut. Viele Kunden würden mit Dir gehen, hast Du gesagt.
  • Jaja, wenn ich das nur genau wüsste, ja, dann könnte ich es ja vielleicht doch versuchen – unabhängig von meinem Alter…
  • Stopp. Streich das Wort versuchen aus Deinem Wortschatz. Versuchen ist halbherzig. Versuchen impliziert Scheitern. Tu es – oder lass es. Du weißt, beim Krav Maga-Training gibt es dafür immer 10 Straf-Liegestütze.
  • Du bist immer so streng. Du bist wahrscheinlich auch gegen mich. Wie alle.
  • Himmel, Anna. Nimm Dein Leben endlich in die Hand, und hör auf Dich als Opfer zu fühlen.
  • Ich, ein Opfer. Blödsinn. So ist das Leben. Die einen werden geliebt; die anderen nicht. Eigentlich habe ich mich damit auch abgefunden.

 

Und: Was meinen Sie? Ist Anna ein Opfer?

Ich denke, die Antwort ist klar: Ja, sie ist eins.
Wunderbar ist dies zu erkennen an den folgenden Ausführungen:

  • Mein Chef ist absolut gegen mich
  • Aber er wurde viel mehr gelobt als ich. 
  • Die können mich ja nicht leiden.
  • Ich würde ja gern, aber das ist ja nun doch nicht so leicht.
  • Ich hätte es doch auch gemacht, aber dann kam Corona.
  • Jaja, wenn ich das nur genau wüsste; ja, dann könnte ich es ja vielleicht doch versuchen 
  • Du bist wahrscheinlich auch gegen mich. Wie alle.
  • So ist das Leben. 
  • Eigentlich habe ich mich damit auch abgefunden.

Diese Wendungen zeigen sehr direkt und schonungslos, dass Anna ein Opfer ist. Denn:

 

Was charakterisiert Menschen, die eine Opferrolle einnehmen? Woran können wir sie erkennen?

Es sind bestimmte Verhaltensweisen und Denkmuster, die sie daran hindern, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen und aktiv an ihrer Situation zu arbeiten. Hier sind einige Kennzeichen:

1. Hilflosigkeit: Sie fühlen sich oft machtlos und glauben, dass sie keinen Einfluss auf ihre Umstände haben. Diese Hilflosigkeit kann zu einem Gefühl der Resignation führen.

2. Negative Selbstwahrnehmung: Menschen in der Opferrolle neigen dazu, sich selbst negativ zu bewerten. Sie sehen sich häufig als Opfer von Umständen oder anderen Menschen und glauben, dass ihnen Unrecht widerfahren ist.

3. Schuldzuweisungen: Sie geben anderen die Schuld für ihre Probleme und Herausforderungen, anstatt die Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen. Dies kann zu einem ständigen Gefühl der Ungerechtigkeit führen.

4. Stagnation: Oft zeigen sie wenig Initiative, um Veränderungen herbeizuführen. Sie bleiben in ihrer Komfortzone und vermeiden es, Risiken einzugehen oder neue Wege zu beschreiten.

5. Negative Denkweise: Menschen in der Opferrolle haben häufig eine pessimistische Sichtweise auf das Leben. Sie konzentrieren sich auf das Negative und sehen Schwierigkeiten als unüberwindbar an.

6. Mangel an Selbstvertrauen: Oft fehlt es ihnen an Selbstvertrauen und dem Glauben an die eigenen Fähigkeiten, was sie daran hindert, aktiv an ihrer Situation zu arbeiten.

Viele Menschen haben sich in dieser Position eingerichtet, teilweise über Jahre. Und hier tritt natürlich die Frage auf:

 

Warum bleiben sie in der Opferrolle? 

Die Gründe sind tief verwurzelt in ihren Erfahrungen, Überzeugungen und emotionalen Mustern. Einige Faktoren sind:

1. Gewohnheit: Die Opferrolle kann zu einem vertrauten Muster werden. Menschen gewöhnen sich daran, sich als Opfer zu sehen, und es kann für sie einfacher erscheinen, in dieser Rolle zu bleiben, als aktiv Veränderungen herbeizuführen.

2. Angst vor Veränderung: Veränderungen können beängstigend sein, selbst wenn die aktuelle Situation unbefriedigend ist. Die Angst vor dem Unbekannten oder vor möglichen Misserfolgen kann dazu führen, dass Menschen lieber in ihrer Komfortzone bleiben.
Es geht ihnen darin nicht schlecht; sie wissen, was sie haben, was sie erwartet. Die Komfortzone zu verlassen, erfordert eindeutig Mut und bedeutet, ihre Grenzen zu verschieben, sich auf Neues einzulassen und ihr Leben aktiv zu gestalten. Menschen, die in der der Opferhaltung verharren, haben aber diesen Mut nicht. Zudem glauben sie, sowieso nichts ändern zu können, also nehmen sie erst gar nichts in Angriff.

3. Wenig Selbstwertgefühl: Viele Menschen, die in der Opferrolle verharren, haben ein geringes Selbstwertgefühl und glauben nicht an ihre Fähigkeiten, die Situation ändern zu können. Diese Unsicherheit hindert sie daran, aktiv zu werden.

4. Externe Bestätigung: In einigen Fällen erhalten Menschen durch ihre Opferrolle Aufmerksamkeit oder Mitgefühl von anderen. Diese externe Bestätigung kann sie dazu ermutigen, in dieser Rolle zu bleiben, da sie sich dadurch emotional unterstützt fühlen.

5. Vermeidung von Verantwortung: Die Opferrolle kann eine Möglichkeit sein, Verantwortung für das eigene Leben und die eigenen Entscheidungen zu vermeiden. Indem man anderen die Schuld gibt, muss man sich nicht mit den eigenen Fehlern oder Entscheidungen auseinandersetzen.

Doch die alles entscheidende Frage ist:

Wie kommen Menschen aus ihrer Opferhaltung heraus?

Und hier sind zwei ganz wesentliche Schritte notwendig:

  1. Um aus der Opferrolle herauszukommen, müssen Opfer diese zuerst erkennen! Sie müssen sich bewusst vor Augen führen, dass sie in einer Opferhaltung gefangen sind.
  2. Sie benötigen einen sehr starken Willen, ihre Situation verändern zu wollen. Denn sie haben sich – im schlimmsten Fall über Jahre – mit dieser Opferrolle abgefunden, keine eigenen Entscheidungen getroffen und ihr Leben praktisch aus der Hand gegeben. Es gilt nun, wieder Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, ins Handeln zu kommen und Lösungen zu entwickeln.

Dabei können die folgenden Tipps helfen:

Die Vorteile eines Rollenwechsels erkennen

Die Opferrolle erscheint auf den ersten Blick angenehm und bequem; doch macht sie zufrieden und glücklich? Sicher nicht. Wenn Menschen in einer Opferhaltung verharren, fühlen sie sich in der Regel verzweifelt, hilflos und ausgeliefert; sie sind passiv und lassen andere über ihr Leben entscheiden. Letztendlich entgleitet ihnen ihr Leben, und sie sind nur noch eine Marionette.
Wenn sie die Opferrolle dagegen ablegen, haben sie die Dinge wieder selbst in der Hand, können selber entscheiden, wie sie mit Situationen umgehen und das Leben gestalten, das sie sich wünschen. Dazu müssen sie die Fäden, an denen sie hängen, zerreißen, sich aufrichten und den Unbequemlichkeiten ins Auge blicken. Und wenn sie diese Unbequemlichkeiten, diese schwierigen Situationen gemeistert haben, fühlen sie sich stärker und voller Selbstvertrauen – was ihnen wiederum dabei hilft, so leicht nicht mehr in die Opferhaltung zu rutschen.

 

Die Perspektive wechseln

Menschen in der Opferrolle neigen dazu, immer nur das Negative zu sehen. Ein Perspektivwechsel ermöglicht es, Situationen aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Anstatt sich als Opfer zu sehen, können sie sich als aktiven Gestalter ihres Lebens wahrnehmen. Durch einen Perspektivwechsel können sie erkennen, dass sie Einfluss auf ihre Reaktionen und Entscheidungen haben. Ein neuer Blickwinkel kann helfen, Herausforderungen als Chancen zum Lernen und Wachsen zu sehen, anstatt sie nur als Belastungen wahrzunehmen.

 

Das Selbstwertgefühl stärken

Der beste und sicherste Weg, die Opferrolle verlassen zu können, ist, das Selbstwertgefühl zu stärken. Wer schlecht von sich denkt, nimmt leichter die Opferrolle an als Menschen mit innerer Stärke und Selbstsicherheit.

Wie das gelingt?
Indem man sich auf seine Stärken besinnt, auf bisherige Erfolge; indem man herausfindet, woher man seinen Selbstwert schöpft (z.B. Beruf, Familie, Hobby, Ehrenamt…) und diesem Bereich einen großen Platz in seinem Leben einräumt; indem man sich so akzeptiert, wie man ist – mit seinen Stärken und seinen Schwächen, mit seinen liebenswerten und seinen nervigen Seiten. Denn gerade diese Mischung macht jeden von uns einzigartig und besonders.

Jeder Mensch hat die Wahl, Kontrolle über sein Leben zu übernehmen und sich selbst treu zu bleiben. Jeder Mensch entscheidet für sich, ob er es dem Zufall, den Umständen oder anderen Menschen überlassen will, wie sich sein Leben gestaltet; ob er lediglich als Statist in seinem eigenen Film agiert; oder, ob er selbst entscheidet, welchen Weg er geht, die Regie in seine Hand nimmt und den Film seines Lebens dreht.

Das Leben stellt uns alle vor Herausforderungen. Doch es liegt an uns, wie wir mit Schwierigkeiten und Krisen umgehen. Unsere Einstellung ist entscheidend. Denn letztendlich geht es im Leben nicht um die Ereignisse, die uns widerfahren, sondern vielmehr darum, wie wir darauf reagieren und was wir aus diesen Erfahrungen lernen.

Und Anna?
Anna hat inzwischen ihre Komfortzone verlassen und ihre Opferrolle aufgeben. Sie hat ihren Traum von der Selbstständigkeit wahr gemacht – ein Schritt, der zweifellos nicht leicht war bzw. ist, der Mut und Entschlossenheit forderte und auch das Bewusstsein, so manche Herausforderung, so manche Durststrecke bewältigen zu müssen. Aber ein Schritt, der sich in jeder Hinsicht gelohnt hat: Denn was gibt es Besseres und Schöneres als sein Leben wieder in der Hand zu haben, seine Träume zu verwirklichen und wieder Freude, Glück und Zufriedenheit zu empfinden.